Wann war bei dir das letzte Mal der Zeitpunkt, wo du sämtliche Vorurteile über Bord geworfen hast? Also dich ganz auf das Hier und Jetzt konzentriert hast, ohne voreingenommen zu sein? Als Autoliebhaber, oder jemand, der das noch werden möchte, lass dir gesagt sein: Im Falle des neuen Volkswagen Golf 8 R (Kraftstoffverbrauch kombiniert: 7,8 l/100 km; CO2-Emmissionen kombiniert: 177 g/km) sollte dieser Zeitpunkt spätestens jetzt gekommen sein.
Wir sprechen da aus einer gewissen Erfahrung heraus. Denn wir sind schon so manchen R-Golf gefahren und zogen über den Neuen voreilige Schlüsse. Wie er aussieht, wie er fahren „könnte“ und natürlich über den Innenraum. Aber auch das Preisschild – mindestens 51.835 Euro – sorgte bei der Vorstellung für ungläubige Blicke. Nach ganz alter Währung über 100.000 D-Mark für einen Golf?
Doch bereits weit vor dem Ende des zweiwöchigen Testzeitraums war klar, dass so manches Ressentiment unbegründet sein sollte. Klar, ob der neue R Golf optisch gefällt bleibt eine Geschmacksfrage. Auch das Innenraumdesign samt verkorkster Bedienung löste bis zuletzt keine Begeisterungsstürme aus. Dafür ist es die Fahrdynamik, die selbst Golf-Verschmäher kaum kaltlassen kann. Aber dazu später mehr.
Kommen wir doch zunächst auf etwas zu sprechen, was wohl kaum ein anderer Sportler im Kompaktsegment so gut kann wie der Golf R: Trotz schicker 19-Zöller (820 Euro), auffälliger Lackierung in Lapiz-Blue-Metallic (810 Euro) und seiner vierflutigen Akrapovic-Titanabgasanlage (3.975 Euro) bleibt der dynamischste aller Gölfe vor allem eines: ein echter Golf! Was komisch klingt, weist den Golf 8 R als wahren Alltagshelden aus, der nicht, wie viele Mitbewerber, mit seiner übertriebenen und teils aufgesetzt wirkenden Sportlichkeit nervt.
Ganz im Gegenteil: Im Comfort-Modus bleiben die 320 PS aus zwei Liter Hubraum stets gut beherrschbar, das Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe wechselt ohne großes Aufsehen die Gänge, die Sportsitze sind bequem und das adaptive DCC-Fahrwerk federt auf Wunsch komfortabel. Ebenfalls Langstreckentauglich: Der im Normalfall kaum merkliche Auspuffsound. Damit meistert der Golf R jegliche (!) Situation im täglichen Verkehrsgeschehen mit großer Bravour – ganz gleich, ob man nur drei Kilometer zum Bäcker oder 3.000 Kilometer quer durch Europa tourt. Dieses Auto macht alles mit und wir können versichern: Es wird keine Klagen geben. Weder von Mitfahrern (zu laut, zu hart, zu klein), noch vom Auto selbst. Der Testverbrauch lag übrigens bei rund neun Liter auf 100 Kilometer mit noch spürbar Luft nach unten.
Was diesen Golf auch noch ausmacht: Dass er eben jene „Golfigkeit“ mit einem Knopfdruck auf das blaue R-Logo am Lenkrad noch schneller abschüttelt als er aus dem Stand auf 100 km/h benötigt (4,7 Sekunden). Dann überspringt das wohl sortierte Getriebe mehrere Gänge nach unten, der 2,0-Liter-TSI fängt an, wahrlich nach einem Verbrenner zu klingen und hin und wieder knallt es sogar aus der Abgasanlage. Fahrwerk und Lenkung werden spürbar straffer, der 4Motion-Allrad hecklastiger und auch die „Sinne“ des Fahrdynamikmanager werden weiter geschärft.
Selten sind wir mit einem Volkswagen so schnell in Kurven rein und ebenso schnell wieder herausgekommen. Dank Torque Vectoring hilft Gas geben am Kurvenscheitelpunkt, um den R-Golf spürbar in die Kurve hineinzuziehen. Dabei federt der Wagen im Race-Modus zwar deutlich straffer, die Insassen bleiben aber einerseits von übertriebener Härte verschont, andererseits schluckt der Wolfsburger auch grobe Unebenheiten immer noch sehr souverän weg. Ein ähnliches Bild zeichnet die Lenkung: Stets von schöner Gewichtung, bleibt sie sogar etwas mitteilsam und überaus agil, ohne dabei zu hektisch zu agieren: Eine der besten VW-Lenkungen der letzten 10 (?) Jahre, würden wir locker behaupten.
Hinzu kommt die schiere Schnelligkeit: 320 PS und 450 Newtonmeter mögen sich in der heutigen Zeit - gerade angesichts der aufkeimenden Elektromobilität - nicht nach allzu viel anhören. Doch der Zweiliter-Turbo geht dermaßen druckvoll zu Werke, dass es andere Verkehrsteilnehmer schwer haben, ihm ernsthaft zu folgen. Zumal das R-Performance-Paket (2.265 Euro) für eine Anhebung der Höchstgeschwindigkeit sorgt: 270 km/h statt 250 km/h machen einen schlanken Fuß – wohlgemerkt in einem Golf!
Damit wären wir auch schon fast am Ende. Denn viel mehr, als dass es der beste Golf ist, den man momentan für Geld kaufen kann, wollten wir eigentlich auch nicht schreiben. Wir gehen sogar darüber hinaus: Für das, was dieses Auto kann, ist das Preisschild völlig angemessen. Mehr braucht kein Mensch. Doch bedauerlicherweise teilt der Golf 8 R eben auch die Nachteile eines normalen Golf 8 - womit wir noch einmal kurz auf das Thema Bedienkonzept und Infotainment zu sprechen kommen wollen.
Denn die komplizierte und bei sportlicher Fahrweise erst recht nervige Handhabung aller Touchflächen und knopflosen Bedienleisten hat uns von Tag eins bis Tag 14 ziemlich viel abgefordert. Das kleinteilig bestückte Lenkrad gab sein Übriges dazu. Hinzu kommt die Bedienlogik als solche, die mit vielen Untermenüs und Verschachtelungen weder Sinn ergibt noch Spaß bereitet. Ebenfalls verbesserungswürdig sind die langen Ladezeiten und die Tatsache, dass in aller Regelmäßigkeit der Ausfall der Audioanlage einen Neustart des Autos erforderte. Das sollte selbstverständlich in keinem Golf passieren - und erst recht nicht in einem, der über 50.000 Euro kostet.
Trübt das weiterhin unfertig wirkende Infotainment-System das Gesamtbild? Um ehrlich zu sein: Kaum. Denn das Fahrerlebnis geht weit über das Erwartete hinaus. So agil, so wandlungsfähig, so schnell und gleichzeitig so stabil haben wir noch keinen Golf erlebt. Ja, durch den Innenraum und das Bedienkonzept ist er spürbar in der Smartphone-Generation angekommen. Das Fahren mit ihm ist aber so analog und so gut wie eh und je. Und ein paar Vorurteile muss es vielleicht auch noch geben, die man erst mit der Zeit über Bord werfen kann. Die Alternative? Audi RS 3. (Text: Maximilian Planker | Bilder: Hersteller)
*Herstellerangaben