Das Benzin ist billig, ab nächstem Jahr gibt es eine höhere Pendlerpauschale und die militanten der Umweltschützer haben sich auf das Sport Utility Vehicle eingeschossen. Gute Zeiten also, zumindest für jene Rolls-Royce Kunden, die sich nicht für einen Cullinan entschieden haben. Darf man im Jahre 2020 überhaupt noch so denken, oder muss man sich für zwölf Zylinder, 6,6 Liter Hubraum und 571 PS vielleicht sogar schämen? Das möchten wir klären und auch, wie der stets klimagestresste Deutsche auf solch ein Automobil reagiert. Doch gemach. Bevor es zum Schaulaufen geht, lassen wir den stattlichen Auftritt des Rolls-Royce Dawn (Kraftstoffverbrauch kombiniert: 16,5-16,9 l/100 km; CO2-Emissionen kombiniert: 372-381 g/km²) erst einmal sacken.
In farblichem Einklang
Schließlich gibt es bei einer Gesamtlänge von 5,30 Meter einiges zu sehen. Zum Beispiel die dunkelgrüne Lackierung, die man bei Rolls-Royce stilbewusst „Dark Emerald“ nennt. Das satte Farbkleid spielt mit der tiefstehenden Wintersonne, wechselt je nach Perspektive vom deutlichen Grünschimmer in edles schwarz und lässt immerzu blaue Metallicpartikel aufblitzen. Ein weiteres Detail: Die traditionell handgemalte „Coachline“, also der feine Strich entlang der Seitenlinie, der dezent auf eine der maskulinsten Stellen eines Rolls-Royce hinweist. Die feinen Pinselzüge in „Moccasin“ fassen die gleichnamige Interieurfarbe auf und passen selbstredend zum beigen Verdeck.
Türen ziehen war gestern
Zwei Türen und vier Sitzplätze bedeuten bei einem Rolls-Royce der Neuzeit, dass man nicht gefahren wird, sondern selbst hinter dem Lenkrad sitzt. Die hinten angeschlagenen Türen erleichtern den Einstieg in das Fahrgastabteil ungemein, wobei den per Knopfdruck elektrisch schließenden Portalen besser keine Patschefinger oder Hunde im Tragetaschenformat in die Quere kommen sollten. Mit einem intensiven „Klack“ schließt die Tür, werden die letzten Millimeter per Soft-Close-Funktion zurechtgezogen und dann: Momente der Stille. Doppelglas und das dicke Akustikverdeck schirmen die Insassen des Rolls-Royce Dawn von der Außenwelt ab; alles ist bereit für den Motorstart.
Mit der Kraft aus Oberbayern
Im langen Bug des Engländers versteckt arbeitet, wie eingangs erwähnt, ein 6,6 Liter großer V12 Motor aus oberbayerischer Produktion. Anders als im großen Bruder Phantom, setzt man im Dawn nicht auf einen speziellen V12 mit traditionell 6,75 Liter Hubraum, sondern verwendet das „Großserienprodukt“ von der Muttergesellschaft BMW. Der intern als N74 bezeichnete Zwölfender, der auch im Münchner Flaggschiff M760Li zum Einsatz kommt, muss sich dabei keinesfalls verstecken. Mit dem Druck auf den Startschalter vernimmt man zunächst für einen Bruchteil einer Sekunde das für einen Zwölfzylinder so typisch eindringliche Zündgeräusch, das kurz darauf abermals von unfassbarer Ruhe abgelöst wird.
Die Power Reserve ersetzt den Drehzahlmesser
Seidig ruht der Antrieb nunmehr im Leerlauf. Wie viel der V12 dabei dreht, wird man als Fahrer nie erfahren. Denn anstelle eines Drehzahlmessers gibt es eine Power Reserve. Sie zeigt, wie viele der 571 Pferdestärken und 820 Newtonmeter Drehmoment noch zur Verfügung stehen. Man darf hier vorwegnehmen, dass sich die analoge Nadel kaum unterhalb von 80 Prozent bewegt, selbst wenn man mit adäquat angepasster Richtgeschwindigkeit (also knapp oberhalb von 200 Stundenkilometer) dem Sonnenuntergang entgegengleitet. Auch in jenen Sphären bleibt der fein gearbeitete Innenraum des Dawn flüsterleise und das einzige was sich merklich bewegt, ist die Tanknadel.
Hoher Verbrauch, zurückhaltend verpackt
Testverbräuche um 18 Liter waren normal, bei flotter Gangart durften es auch 20, gerne auch 25 Liter Kraftstoff sein. Eine Momentanverbrauchsanzeige gibt es derweil nicht. Die erwähnte Pendlerpauschale wird das Trinkverhalten des Rolls-Royce Dawn dabei finanziell nicht ausgleichen können, doch wer Kleingeld spart, der kann mit einem Kilo 2-Euro-Münzen den 100 Liter Tank auf jeden Fall auch in den kommenden Jahren noch locker füllen. Für irgendwas muss das Hartgeld ja nütze sein. Doch anders als jene Überspitzung vielleicht vermuten lässt, ist der Rolls-Royce Dawn kein Auto, das sich aufdrängen möchte. Natürlich: Auf dem Parkplatz der örtlichen Stammtischwirtschaft und an der Tankstelle fällt das Trumm ein wenig aus dem Rahmen – im alltäglichen Straßenverkehr aber nicht. Und das gefällt, weil es dem Sozialneid entgegenwirkt. Wer dann noch die Spirit of Ecstasy im Kühlerfigurenkabinett versenkt, fährt für die meisten sowieso undercover.
Open Air in 22 Sekunden
Spricht einen doch mal jemand auf den Dawn an, sind es durchwegs positive Stimmen und auch die Blicke anderer Verkehrsteilnehmer zeugen eher von deutlicher Befürwortung, als von krasser Ablehnung. Wer sich in Deutschland für exakt 342.541,50 Euro im Einstand einen Rolls-Royce Dawn leisten mag, dem ist es im Zweifel ohnehin egal, was andere von ihm denken. Er sitzt perfekt im exquisiten Ledergestühl, das erstaunlicherweise weit weniger Verstellmöglichkeiten bietet als jenes in einem 7er BMW, dreht die Bespoke Audio Soundanlage auf und kann dabei sogar eine Cohiba Robusto rauchen – schließlich gibt es noch ein Raucherpaket. Das intuitiv aufgebaute BMW-iDrive-System, der nicht mehr ganz aktuellen Generation, führt in angepasster Rolls-Royce-Optik bediensicher zum nächsten Weinhändler und falls die Temperaturen es erlauben, klappt man innert 22 Sekunden und bis 50 Stundenkilometer das große Stoffverdeck nach hinten.
Kein Fahrzeug für Dynamiker
Ist das Dach im blechernen Tonneau versenkt, die Sonnenbrille zurechtgerückt, eine Kubanische angezündet und die Kiste Bordeaux im 244 Liter fassenden Gepäckabteil verstaut, darf auch einmal über die eigentlichen Fahrleistungen des Rolls-Royce Dawn gesprochen werden. Sie sind: gemütlich. Zwar schiebt der 2,6 Tonner ordentlich voran, erreicht nach 5,0 Sekunden Tempo 100 und eilt bis 250 Stundenkilometer – er mag es dann aber doch eher gediegen. Allen voran die gewöhnungsbedürftige Lenkung ohne merkliches Rückstellmoment verlangt des Öfteren größere Kurbeleinlagen am opulenten Volant. Das Luftfahrwerk und die Abstimmung des 8-Gang-Wandlerautomaten sind jedoch über jeden Zweifel erhaben, lassen den Dawn beinahe schweben und sind zur Gänze auf Komfort ausgelegt. In engen Kurven wird daher gerne gewankt, ein wenig geschaukelt und nein, man bewegt einen Rolls‘ einfach nicht im eiligen Tempo. Dazu passend ist auch, dass, bis auf eine "Low Gear"-Funktion, jedwede manuelle Schaltmöglichkeit fehlt. Selbst eine Fahrstufenanzeige ist nicht vorhanden.
Fazit
Sind 571 PS in einem 2,6 Tonnen schweren Luxus-Cabriolet am Ende dekadent und unvernünftig? Vielleicht. Muss man sich dafür schämen? Ganz im Gegenteil! Schließlich bewegt man mit einem Rolls Royce generell und mit dem Dawn im Speziellen kein massentaugliches Automobil, sondern ein Kunstwerk. Ein Stück Kulturgut, vielleicht entsprungen im 20. Jahrhundert, aber immer noch so faszinierend wie eh und je. Der V12-Antrieb bärenstark, seidig und flüsterleise, das Fahrwerk äußerst komfortabel und das Erscheinungsbild beinahe unwiderstehlich. Wer von einem selbst zu lenkenden Rolls-Royce allerdings die Fahrdynamik eines BMW oder Bentley Cabrio erwartet, der wird schnell feststellen, dass er dies nicht leisten kann und – ganz wichtig – dass er dies auch gar nicht leisten will. (Text und Bild: Thomas Vogelhuber)
Technische Daten*
- Modell: Rolls-Royce Dawn
- Motor: Zwölfzylinder-Turbomotor, 6.749 ccm
- Leistung: 571 PS (420 kW) bei 5.250 U/min
- Drehmoment: 900 Nm bei 1.700 U/min
- Antrieb: Heckantrieb, 8-Gang-Automatik
- Verbrauch kombiniert: 16,5-16,9 l/100 km²
- CO2-Emissionen kombiniert: 372-381 g/km²
- Beschleunigung (0 – 100 km/h): 5,0 s
- Höchstgeschwindigkeit: 250 km/h
- Abmessungen (L/B/H): 5,30 m/1,95 m/1,50 m
- Gewicht ca: 2.560 kg
- Tankvolumen: 100 l
- Grundpreis DE: 342.541,50 Euro
*Herstellerangaben