Mercedes V-Klasse - wenn es mehr sein darf
Liegt es am tatsächlichen Platzbedarf, oder hallt der Ruf der Freiheit nicht nur in Richtung SUV, sondern vor allem durch die Innenräume eines Großraumvans wie dem VW Multivan?
Der Drang zum familienorientierten Kastenwagen ist vor allem in Vororten mit gutsituierten Anwohnern zu beobachten. Mit dem zweiten Kind, aller allerspätestens mit dem Gedanken an die Möglichkeit von Nachwuchs Nummer drei steht besagtes Modell von Volkswagen Nutzfahrzeuge vor der Tür. Oder der Konkurrent mit Stern im Kühler.
1996 brachte Mercedes-Benz die erste V-Klasse auf den Markt. Wie das Vorbild aus Hannover nutzte der Erfinder des Automobils die Transporter-Basis (in diesem Fall den Vito) für eine aufgerüschte PKW-Variante. Sogar einen V280 mit Sechszylindermotor gab es – übrigens mit dem 174 PS starken VR6 von VW! Qualitätsprobleme der V-Klasse sorgten schnell für Verdruss bei den Kunden. Das gilt auch für den Nachfolger Viano. Beide Generationen konnten ihren Nutzfahrzeugcharakter zudem nie ganz ablegen.
Das änderte sich 2014. Der dritte Aufschlag im Segment der edlen Busse, jetzt wieder mit dem Namen V-Klasse, saß. Mit premiumgerechter Anmutung innen und außen, drei Karosserielängen und vielen Optionen aus den PKW-Modellen, erfüllte die V-Klasse endlich den gehobenen Anspruch, den man zurecht an ein Auto der Marke Mercedes-Benz stellt.
Fünf Jahre konnten sich die Modellplaner in Stuttgart dann auch Zeit lassen, um der V-Klasse eine Überarbeitung angedeihen zu lassen. Ihre Selbstsicherheit verloren sie auch mit dem zum T6.1 umfangreich gelifteten Wettbewerber von VW nicht.
Ein neuer Stoßfänger mit größerem Lufteinlass an der Front, neue Lackoptionen und geänderte Räderdesigns genügen der V-Klasse beim Besuch im Kosmetikstudio. Innen zogen die runden Lüftungsdüsen aus der Kompaktbaureihe ein.
V300d mit 239 PS
Wichtiger war der Einsatz neuer Motoren, um aktuellen Abgasnormen zu genügen. Seitdem fährt die V-Klasse in drei Leistungsstufen vor, je kredenzt aus einem zwei Liter großen Vierzylinder-Diesel. Zum Test rollte der im schicken Hyazinthrot-Metallic lackierte Benz-Bus als V300d (Kraftstoffverbrauch kombiniert: 5,9– 6,1 l/100 km; CO2-Emissionen kombiniert: 155 – 161 g/km²). Diese Bezeichnung weist auf die stärkste Ausbaustufe des Selbstzünders mit 176 kW/239 PS Leistung hin.
Die mittlere von drei Karosserielängen erfüllt alle Anforderungen, die im normalen Leben an Raumfülle für Personen und Gepäck sowie die Optik gestellt werden. Mit 5,14 Meter ist der V300d dann aber knapp 24 Zentimeter länger als ein Multivan – das als Tipp an Leserinnen und Leser, die jetzt gleich mal Garage oder Carport ausmessen.
Der OM654, so die interne Motorbezeichnung (OM für Ölmotor, also Diesel – kein Scherz!) klingt nur die ersten paar Takte nach dem Kaltstart knurrig. Schnell gewinnt die Laufruhe Oberhand. Mit dem Hebel rechts vom Lenkrad wird die serienmäßige Neungang-Automatik auf „D“ geschnippt und die Fahrt beginnt.
Als V300d zählt die Mercedes V-Klasse zu den fixen Autos im Lande – nicht nur unter Bussen und Vans. 500 Newtonmeter maximales Drehmoment werden an die geleitet Hinterräder (Allradantrieb mit dem Zusatznamen 4Matic gibt es optional). Bei Bedarf kommen per Overtorque kurzzeitig weiter 30 Newtonmeter dazu.
220 km/h Höchstgeschwindigkeit werden mühelos erreicht
In 7,9 Sekunden beschleunigt die immerhin knapp 2,2 Tonnen schwere V-Klasse auf 100 km/h und auf der Autobahn auch mühelos in Richtung der Höchstgeschwindigkeit von 220 km/h. Selbst dann liegt der V300d mit dem ab der Ausstattungslinie Avantgarde serienmäßigen Agility-Control-Fahrwerk stets satt und sicher auf dem Asphalt. Die frequenzabhängig variable Dämpfung leistet ganze Arbeit.
Mit Beinahe-ICE-Tempo können der Fahrer und, im Falle der Testwagen-Konfiguration, fünf Passagiere in drei Reihen also gen Ziel düsen. Die Herausforderung ist dabei aber in den anderen Verkehrsteilnehmern zu sehen. Obwohl sich der große Mercedes formatfüllend in Außen- und Innenspiegeln positioniert, verbindet kaum jemand derart hohe Geschwindigkeiten mit einem „Kastenwagen“.
Gut, dass auch die Bremsen der V-Klasse groß dimensioniert sind und stets für kräftige Verzögerung ohne Fading sorgen.
Auf langen Strecken wird ohnehin die adaptive Geschwindigkeitsregelanlage aktiviert und ein stressfreies Reisetempo im Dunstkreis der Richtgeschwindigkeit gewählt. Die Sensorik in der Frontmaske erkennt andere Verkehrsteilnehmer früh, das Fahrzeug wird sanft abgebremst. Lediglich die Geschwindigkeitszunahme bei freier Bahn voraus, zum Beispiel nach dem Ausscheren auf die linke Spur, wirkt etwas träge.
Nachts überzeugt die Lichtausbeute der LED-Scheinwerfer. Mit dem optionalen „Fernlichtassistent Plus“ werden Gegenverkehr und vorausfahrende Fahrzeuge zuverlässig aus dem Lichtkegel genommen.
MBUX in der V-Klasse
Kommen wir nun endlich zum Grund dafür, der die Mercedes V-Klasse erst einige Zeit nach dem Facelift zum Test anrollen ließ. Auch er findet sich im Innenraum, genauer im Cockpit. 2019 fuhr nämlich noch das altgediente, sagen wir lieber angejahrte, Command-System mit.
Nachdem selbst der größere Sprinter auf die neue MBUX (Mercedes-Benz User Interface) – Technik wechseln durfte, war leicht zeitverzögert auch die V-Klasse dran. Endlich können, sofern man 328 Euro Aufpreis zahlt, Smartphones via Apple CarPlay oder Android Auto integriert werden.
Das zehn Zoll große Display, das aufrecht über der Mittelkonsole steht, erfreut mit einer hohen Auflösung. Das werksseitige Navigationssystem ist online und nutzt Echtzeit-Verkehrsdaten. Die Routenanweisungen lassen sich auf im Display zwischen den Rundinstrumenten anzeigen – ein Head-up-Display wird aber nicht angeboten.
Etwas unterhalb einer Leiste von hochwertig anmutenden Direktwahltasten liegt ein Touchpad zur Steuerung einiger Infotainment-Funktionen, die man nicht über den Touchscreen erledigen will oder kann – denn dafür braucht es je nach Sitzposition längere Arme.
Die Bedienung hat nicht gewonnen
Im Vergleich zum Dreh-Drücksteller des bisherigen Command-Systems (ja, der im Raumschiff-Enterprise-Design) ist das Touchpad ein ergonomischer Rückschritt. Die Hand liegt nicht auf, man kann mit dem Finger auf der Oberfläche nicht so ablenkungsfrei Befehle ausführen wie mit einem spürbar rastenden Drehrad. Ärgerlich vor allem dann, wenn man Musikstücke einer Playlist durchblättern möchte. Es bedarf stets einem Klick und einem Bick zu viel.
„Hey, Mercedes“ hilft in diesem Fall leider auch nicht weiter. Ansonsten funktioniert die Sprachbedienung fast tadellos. Sie versteht auch komplizierte Zieladressen im Nuschelton und übernimmt die Routenführung. Auch die Klimaanlage kann mit Befehlen wir „mir ist kalt“ gesteuert werden. Ein Fauxpas: Auf die Ansage „Hey Mercedes, Sitzheizung Fahrerseite aktivieren“ kommt die Antwort, dass das Auto leider keine Sitzheizung hat. Hat es doch – hier scheint die Adaption von MBUX auf die Fahrzeugplattform der V-Klasse einen blinden Fleck zu haben.
Preis-Vergleich mit dem VW Multivan
Die V-Klasse ist also ein hochwertig verarbeiteter, schneller und mit modernster Connectivity ausgestatteter Reisebus. Kein Wunder, dass man dafür kräftig zur Kasse gebeten wird. Die umfangreiche Avantgarde Edition kostet als V300d ab 64.496 Euro, der Testwagen stellt mit einigen Extras einen Listenpreis von 73.468,60 Euro dar. Zum Trost reicht ein Blick in den Konfigurator von Volkswagen Nutzfahrzeuge: Ein entsprechend ausgestatteter T6.1 Multivan ist, mit 199 PS-Diesel, merklich teurer. (Text und Bild: Bernd Conrad)
Fazit
Mit der dritten Generation der V-Klasse ist Mercedes-Benz auch im Segment der Großraumvans ein solides Premiumangebot gelungen. Mit dem starken Dieselmotor im V300d spurtet die V-Klasse unerwartet dynamisch, Fahrwerk und Lenkung tragen dem mit hoher Fahrsicherheit Rechnung. Trotz hastiger Autobahnetappen bleibt der Testverbrauch mit 9,5 Litern Diesel je 100 Kilometer auch im Rahmen. Es überwiegen also nicht nur die praktischen Aspekte. Busfahren kann auch Spaß machen! (Text und Bild: Bernd Conrad)