1972 kam die S-Klasse erstmals unter dieser Bezeichnung auf den Markt, insgeheim hätten wohl schon die Modelle 250 S und 300 SEL 6.3 den Namenszug der Sonderklasse tragen sollen. Wenngleich damals jedes Schuldkind anhand der Nomenklatur am Kofferraumdeckel bestimmen konnte, wie viel Hubraum der Motor hat, funktionieren solche Spiele heute nicht mehr.
Bereits seit der 2017er Modellpflege der Baureihe 222 herrscht am Heck des S 500 eine Art von Etikettenschwindel. Weder aufgerundete fünf Liter Hubraum noch acht Zylinder lassen sich im Triebwerksraum finden, dafür aber ein drei Liter großer Reihensechszylinder als Mild-Hybrid (Kraftstoffverbrauch kombiniert: 8,0 l/100 km; CO2-Emissionen kombiniert: 183 g/km²). Diesen hat Mercedes ohne große Änderungen in die hier gefahrene Nachfolger-S-Klasse 223 transferiert.
Ist das schlecht? Auf keinen Fall. Denn der elektrifizierte M 256 ist ein ausgesprochen laufruhiger Geselle, der dank 320 kW/435 PS nicht nur ordentlich im Futter steht, sondern gleichzeitig sehr knausrig mit den Spritreserven umzugehen weiß. Ein 16 kW/22 PS starker integrierter Startergenerator (ISG) liefert zusätzliche Energie, hilft beim Anfahren und Beschleunigen. Neben einem Turbolader besitzt der Reihensechszylinder zusätzlich einen elektrischen Verdichter, der für mehr Spontanität am Gaspedal sorgt.
Eine ziemlich perfekt schaltende 9G-Wandlerautomatik portioniert die Kraft und leitet die 520 Newtonmeter des Verbrenners sowie die situationsabhängigen 250 Newtonmeter des ISG über den serienmäßigen Allradantrieb auf die Straße. Traktionsprobleme kennt der S 500 als 5,29 Meter Langversion damit genauso wenig wie ausufernde Spritverbräuche. Unter Realbedingungen sind es laut Bordcomputer kaum mehr als 8,5 Liter auf 100 Kilometer.
Beim Fahrwerk vertrauen die Schwaben auf eine serienmäßige Luftfederung, optional wird das elektronisch geregelte E-Active-Body-Control-System gereicht. Unser Testwagen hatte jenes Extra nicht an Bord, federte aber dennoch mehr als prächtig. Nur bei höherem Tempo neigt die Karosse zum dezenten Nachschwingen, Querrillen können ab und an deutlicher zu den Insassen durchdringen. Erfreulich für alle Parkhausnutzer: Die gegen Aufpreis stark mitlenkende Hinterachse sorgt für einen beinahe schon kleinwagenartigen Wendekreis von 10,9 Meter, erfordert von alteingesessenen Limousinenfahrern aber zunächst etwas Eingewöhnung.
Wichtig für eine Oberklasselimousine ist auch das Thema Innengeräusche. Bis 130 km/h kaum wahrnehmbar säuselt der Wind an der Außenhaut entlang, dafür nervt bis zu jener Geschwindigkeit der Geräuschpegel der im Bereich des Innenspiegels angebrachten Sensoreinheit. Da hilft es nur die ebenfalls extra kostende Burmester-Soundanlage zu bemühen, um sich ablenkend beschallen zu lassen.
Womit wir endgültig im S-Klassen-Innenraum angelangt wären. Er ist ein Hort der Ruhe und Geborgenheit. Hier kann man sich fallen lassen und wird sich in aller Entspanntheit darüber ärgern, die Türen von innen nur schwerlich schließen zu können. Sie öffnen sehr weit, was einen einfachen Ein- und Ausstieg ermöglicht. Allerdings zu weit, um sie ordentlich fassen zu können. Eine elektrische Schließfunktion wird nur für die Fond-Türen der Maybach-Modelle angeboten.
Die Multikontursitze sind dagegen ein Meisterstück an Ergonomie und selbst nach 500 Kilometern an einem Stück steigt man vorne wie hinten aus, als wäre nichts gewesen. Der Beinraum im Fond der Langversion ist fürstlich, doch auch in der ersten Reihe kommt keine Platzangst auf.
Diverse Massage- und Wellnessprogramme unterstützen weiterhin die persönliche Vitalität, die man auch braucht, um beim Infotainment-Angebot der S-Klasse den Überblick zu behalten. So beweist das neue Mercedes-Flaggschiff eindrucksvoll, dass durch größere Bildschirme nicht automatisch der Bedienkomfort steigt. Gefühlt die Hälfte des 12,8 Zoll Touchdisplays hätte es auch getan, das MBUX-System arbeitet schnell, aber nicht alle Menüpunkte wirken auf den ersten Blick logisch. Dass die riesige Displayfläche bereits nach einer Fahrt durch Fingerabdrücke unschön anzusehen ist, soll hier nur eine Randnotiz sein.
In Sachen Bedienkomfort ebenfalls nicht der Weisheit letzte Schluss sind die kleinteilig anzufassenden Tasten am Multifunktionslenkrad. Dafür funktioniert die Spracheingabe ohne große Hürden und dass beispielsweise die Sonnenschutzrollos per gezieltem Blickkontakt öffnen und schließen, ist ein netter Gag. Ebenfalls sehr gelungen ist die Umsetzung des Head-up Display mit Augemented Reality-Funktion. Die zahlreichen – und hier sicherlich nicht gänzlich aufgeführten – technischen Raffinessen der neuen Mercedes-Benz S-Klasse täuschen allerdings nicht darüber hinweg, dass an der einen oder anderen Stelle die Liebe zum Detail fehlt.
So sind die Mittelkonsole und die Einfassungen der Fensterheber aus eher einfachem Hochglanzkunststoff gefertigt, neigen zum Verkratzen und sind zudem unsauber ausgestanzt. Der Kofferraumdeckel unseres Testwagens arbeitete auf martialische Art und Weise, wirkte verspannt und hätte ob des Schließmechanismus wohl keine Softclosefunktion mehr benötigt. Nörgelei auf hohem Niveau möge man das nennen. Bei einem Testwagenpreis von 170.499,65 Euro bleibt aber kaum Luft für Ausreden.
Die neue Mercedes-Benz S-Klasse (223) als S 500 lang ist wahrlich ein Flaggschiff und verkörpert auf eindrucksvolle Weise das derzeit technisch machbare im Automobilbau. Wenngleich das elektrische Schwestermodell EQS noch futuristischer auftreten wird, verbindet kaum ein Auto die alte (Verbrenner-)Welt so gut mit der anstehenden digitalen Epoche wie dieser Wagen. Antrieb und Fahrwerk arbeiten in bemerkenswerter Harmonie zusammen, der Verbrauch ist niedrig, das Komfortlevel hoch. Kritikwürdig bleibt die nicht immer einfache Bedienung und die Tatsache, dass nicht alle eingesetzten Innenraummaterialien dem sehr teuren Preisniveau entsprechen. (Text und Bild: Thomas Vogelhuber)