Benzin, Diesel, Plug-in oder doch gleich Vollstrom? So ganz weiß man in Europa gerade nicht, mit welchem Kraftstoff man sich die nächsten Jahre am besten fortbewegen soll. Auf der einen Seite wurde das EU-Verbrenner-Aus für 2035 (mit Umsetzungsprüfung 2026) beschlossen, gleichzeitig Euro7 halb kassiert und im Nicht-EU-Land Schweiz geht man aus Angst eines drohenden Energienotfalls schon wieder dazu über, reine Elektroautos im Ernstfall mit Fahrverboten für Privatfahrten zu sanktionieren.
Die Hersteller reagieren auf dieses Durcheinander an Regeln, Gesetzen und Verboten immer häufiger mit einer sogenannten Multi-Antriebs-Plattform. So auch Hyundai/Kia. Die Koreaner stellten bereits die erste Generation des Niro (hier im Test) auf eine solche technisch flexible Basis, offerieren nicht nur den 150 kW/204 PS starken Vollstromer Niro EV (Stromverbrauch kombiniert: 16,2 kWh/100 km; CO2-Emissionen kombiniert: 0 g/km; elektrische Reichweite: bis zu 460 km)², sondern weiterhin auch einen Plug-in Hybrid sowie einen regulären Mild-Hybrid-Benziner. Wie schon beim von 2016 bis 2022 gebauten Vorgänger wird auf einen Dieselantrieb zur Gänze verzichtet.
Dabei empfiehlt sich besonders die Elektrovariante des Kia Niro als eine Art Volksversteher. Ja, auch er kostet ohne Beachtung von immer weiter sinkenden Förderungen mit 47.590 Euro (ein Plus von 4.800 Euro gegenüber der ersten Generation) eine Stange Geld. Doch immerhin bekommt man dafür auch weiterhin einen ordentlichen Gegenwert geboten. So beginnen wir den Testbericht diesmal nicht vorne links, sondern hinten rechts im Fahrzeug. Der Kia Niro EV holt das Maximum aus seinen 4,42 Metern Gesamtlänge heraus und bietet auch dann auf der Rücksitzbank großzügige Platzverhältnisse, wenn die Vordersitze auf Großgewachsene jenseits der 1,90 Meter eingestellt sind. Das schaffen selbst Mitbewerber in der nächstgrößeren Fahrzeugkategorie nur selten.
Mit vier Erwachsenen gemütlich in den Urlaub stromern? Warum eigentlich nicht. Einzig wirkliche Hürde – und mit Abstand der größte Kritikpunkt am Niro EV – ist die niedrige Ladeleistung. So soll der Crossover über die an der Front angebrachte CCS-Aufnahme zwar eigentlich mit bis zu 80 kW am Gleichstrom-Lader hängen; mehr als 50 kW waren während des Testzeitraums allerdings nicht drin. Ist die netto 64,8 kWh-Batterie jedoch ordentlich mit Elektronen versorgt, lässt sich der Stiefbruder des E-Soul betont sparsam bewegen. Vorausgesetzt man wählt die optionale Wärmepumpe, sind selbst im Winter Verbräuche um 18 kWh auf 100 Kilometer realistisch – die Reichweite liegt so, mit Puffer, bei rund 300 Kilometern, im Sommer oder im Innerstädtischen Betrieb sogar darüber.
Das bisweilen straffe Fahrwerk des Erstlingswerk wurde durch eine ausgewogenere Variante ersetzt, die auch tauglich ist auf längeren Strecken zu parieren. Der 204 PS starke Frontantrieb (eine schwächere Variante ist nicht mehr im Angebot) hat leichtes Spiel mit den gut 1.900 Kilogramm des Niro EV und auch die Lenkung macht ihre Sache gut. Rekuperiert wird stufenweise bis zum mittlerweile gewohnten One-Pedal-Driving. In gut 7,8 Sekunden gelingt der Standardsprint von null auf 100 km/h, die Höchstgeschwindigkeit liegt abgeregelt bei 167 km/h. Beide Werte sind für den Alltag mehr als ausreichend und lassen nie das Verlangen nach mehr Antriebsvehemenz aufkommen.
Abgesehen von den üppigen Platzverhältnissen vorne wie hinten, liefert Kia im Niro EV auch einen gut nutzbaren Kofferraum mit 475 Liter Stauvolumen bei aufgeklappten Rücksitzen, sowie ein maximale Abteilgröße von bis zu 1.412 Liter bei umgeklappten Sitzen. Die Anhängelast beträgt 300 Kilogramm – was zumindest für kleinere Zugaufgaben ausreichen sollte.
Angesprochen auf die Cockpitqualitäten hat Kia kräftig nachgelegt. Zwar sind die Kunststoffe im Niro auch weiterhin von klopffester Natur, das ineinander übergehende Doppeldisplay von Tacho und Infotainment, bekannt aus dem Flaggschiff-EV6, macht aber schon einiges her. Genauso wie die Tatsache, dass die haptische Einfachheit der eingesetzten Materialien optisch meist gut kaschiert wird. Bequeme Sitze und eine gute Bedienergonomie samt echter Knöpfe und Schalter runden den positiven Eindruck des Innenraums weiter ab. Eine induktive Lademöglichkeit gehört zum Serienumfang des Niro EV, genauso wie je ein USB-A und -C Anschluss in der Mittelkonsole. Selbstredend werden Smartphones via Apple CarPlay und Android Auto kabellos gespiegelt.
Trotz der vielen modernen Einflüsse im Cockpit; Navigation und Infotainment-Bedienung sind eher konservativ ausgerichtet, verschachtelte Menüs sorgen ab und an für Verdruss ebenso die Doppelbelegung der Touchleiste unterhalb des Displays für die Infotainment- und Klimasteuerung. Ausbaufähig sind zudem die Fähigkeiten der Assistenzsysteme. Unter anderem die Spurführung wird bei kleinsten Markierungsfehlern unterbrochen, Geschwindigkeiten meist nur nach dem Zufallsprinzip erkannt.
Mit dem auf der neuen K3-Plattform aufbauenden Niro EV erfindet Kia das Rad am Elektroauto zwar nicht neu, macht ein bisher gutes Produkt an vielen Stellen allerdings noch ein bisschen besser. Dabei erstaunt die technische Nähe zum Vorgänger, wobei das größte Manko, die geringe Ladeleistung, auch in der neuen Generation nicht behoben wurde. Ansonsten punktet der Koreaner als Volksversteher: Er ist ein kompaktbauender Crossover mit viel Platz für die ganze Familie, niedrigen Verbrauchswerten und keinem unnötigen Schnickschnack. Nur beim Preis entfernt sich der elektrische Kia Niro, wie seine Mitbewerber auch, immer weiter von der eigentlichen Zielgruppe. (Text: Thomas Vogelhuber | Bilder: Hersteller)
*Herstellerangaben