Schon vor seinem Erscheinen war klar, dass der auf der E-GMP von Hyundai-Kia aufbauende EV6 ein Schocker für die Konkurrenz wird. Eine voll auf batterie-elektrischen Antrieb fokussierte Plattform, noch dazu mit sündteurer 800 Volt-Architektur: Die Koreaner gingen keine Kompromisse ein, sondern ließen ihre ersten echten Volumen-Stromer aus dem Vollen schöpfen. Das alles weit diesseits des Grundpreises eines Porsche Taycan – zum Zeitpunkt des Erscheinens der einzige 800 V-Konkurrent der Koreaner.
Dass die Vorschusslorbeeren nicht zu Unrecht verliehen wurden, zeigte das Presseecho. Der Kia EV6 begeisterte ¬ auch uns. Sogar den begehrten Titel „Auto des Jahres“ konnte er jüngst gewinnen, der Pokal steht stolz in der Kia-Europa-Zentrale in Frankfurt im Showroom. Nur, was passiert abseits der Presse-Glitzerwelt, abseits der Prüfroutinen und standardisierten Norm-Tests? Ermattet der Stern des Kia EV6 GT-Line AWD (Stromverbrauch kombiniert: 17,2 kWh/100km; CO2-Emissionen kombiniert: 0 g/km)² im tristen Alltagsgrau so wie seine modische Lackierung? Wir baten ihn eine Woche zum Intensivtest.
Die Farbe haben wir bereits angesprochen. Das matte Grau verleiht dem EV6 GT-Line einen angenehm technoiden Look. Im Gegensatz zu den schnell ins prollige abdriftenden Sportmodellen der traditionellen Premiumkonkurrenz ist es vielleicht die passendste Farbe für einen ambitionierten Stromer, der konzeptionell eine Brücke in die Zukunft schlägt.
Andererseits weiß der EV6 auch die Klaviatur der maskulin-kraftvollen Stilistik zu bespielen. Zusammengekniffenen LED-Augen an der Front, flankiert von grimmigem Stirnrunzeln, das sich über die gesamte vordere Haube zeiht und in wunderbar voluminös gearbeitete Kotflügel übergeht. Einzig die Felgen könnten ein bisschen mehr Einpresstiefe vertragen und das Fahrwerk dürfte eine Spur tieferliegen. Aber hier wartet bereits der „echte“ GT am Horizont – der genau diese Kritikpunkte ausmerzen wird und darüber hinaus noch einmal ordentlich mehr Leistung unter dem Blech versammelt.
Die sonstigen Details zeugen vom tiefen Verständnis der Koreaner von aerodynamischer Effizenz und deren Wichtigkeit für den Energiehaushalt eines Stromers. Luftleitflächen allerorten, mal verschlossen, mal offen, ganz wie es der Situation gerade bedarf. Ein kleines Manko hat dieser der Funktion untergeordnete Form allerdings: das abfallende Heck und die flache Heckscheibe sorgen in Kombination mit der breiten C-Säule für eine eher eingeschränkte Übersichtlichkeit.
Innen hat Kia der Versuchung allerdings widerstanden sich der effekthaschenden Extravaganz hinzugeben. Das Interieur des EV6 empfängt den Piloten deshalb auch in der sportlichen GT-Line mit einem angenehmen Mix aus traditioneller Bedienung und modernem Raumkomfort.
Dabei ist „traditionelle“ Bedienung natürlich nur insofern zutreffend, als das man vollflächige Glasdisplays mit Touchbedienung schon für die Norm hält. Doch Kia schafft es immerhin mit einem cleveren Kniff die haptischen Bedienelemente in hoher Anzahl vorzuhalten. Unter dem mittigen Display befindet sich eine Multifunktionsschalterleiste, die neben zwei Drehreglern auch beleuchtete Touchflächen beherbergt. Dort wird entweder die Klimabedienung angezeigt, oder die Medien-Navigation. Es gibt also sowohl Drehregler für die Innenraumtemperatur, als auch einen Lautstärke- und Stationsregler. Beides aber eben nicht gleichzeitig. Eine clevere Idee, die sich gerne durchsetzen darf.
Überhaupt sind es diese Feinheiten, die zeigen wie sehr Kia auf Nutzwert bedacht ist. Man hat mehr als ein Ohr bei den Kunden. Anders ist auch die kompromisslose Verarbeitungsqualität nicht zu erklären, die tatsächlich auf einem längst vergangenen Niveau von Volkswagen angekommen ist. Und das meinen wir nicht als Kompliment für die Wolfsburger. Passungen, Materialauswahl, selbst die Klickrastung der Tasten wirken ausgefeilt und durchkonstruiert. Einzig die Kopfstützenverblendungen von Fahrer- und Beifahrersitz fallen da in Sachen Anfassqualität etwas aus dem Rahmen. Aber das ist Jammern auf sehr hohem Niveau.
Ebenfalls Jammern auf hohem Niveau ist der deutlich merkbare Bedeutungsschwund der Pferdestärke. Im Zeitalter der E-Mobilität hat die archaische Maßeinheit, die im metrischen System der Ingenieure sowieso nie wirklich einen Platz hatte, scheinbar endgültig ausgedient. Dabei ist sie doch vor allem psychologisch wertvoll, ist ihr Wert doch immer höher als die Kilowatt-Zahl. Denn der die 239 System-kW des Kia EV6 GT-Line AWD Long Range mit 1,36 multipliziert, der errechnet 325 PS als Antriebsleistung des Strom-Koreaners. Und so fährt er dann auch.
Natürlich ist die Beschleunigung aus dem Stand die Paradedisziplin eines jeden Stromers. Auch der EV6 GT-Line gibt sich hier keine Blöße. In 5,2 Sekunden schießt er sich und seine Insassen auf Landstraßentempo, muss allerdings bereits bei 185 km/h abregeln. Überhaupt fehlt im oberhalb von 150 km/h ein bisschen das Pfund. Aber hier hält man sich angesichts des horrenden Energiebedarfs sowieso nur selten auf.
Spannender ist hingegen die Balance des Fahrwerks. Denn wenngleich die zügige Langstrecke nicht das Steckenpferd eine E-Autos ist, so liegt die GT-Line des EV6 bemerkenswert ruhig auf der Straße. Die Sattheit kommt natürlich auch vom üppigen Leegewicht, das mit 2.090 Kilogramm angegeben ist. In Kombination mit dem 2,90 Meter langen Radstand wird der große Kia damit aber nicht nur zu einem guten Gleiter, sondern er bleibt überraschend fahraktiv. Die Dämpfung behält jederzeit die Kontrolle und auch die Lenkung ist perfekt abgestimmt und gewichtet. So macht es wirklich Spaß den EV6 auch mal richtig ums Eck zu treiben und die Traktionsschärfe eines aktiv geregelten Elektro-Allrads kennenzulernen. Einzig der Wendekreis ist etwas gar groß. So mussten wir in der Redaktionstiefgarage die Ausfahrt in drei Zügen anfahren – was sonst nur bei großen SUV nötig ist.
Während wir im Sommer im Rahmen der Präsentation beste Werte an der Ladesäule ablasen – wir schafften hier fast 240kW in der Spitze – sah es während des Kälteeinbruchs in der vergangenen Woche nicht mehr ganz so rosig aus. Mit kalter Batterie brachte es der EV6 nie auf dreistellige kW-Werte, was natürlich völlig normal ist, viele Unbedarfte aber frustrieren dürfte. Spätestens hier zeigt sich, dass elektrisches Fahren doch ein wenig mehr Mitdenken erfordert. So versteckt sich etwa im Antriebsmenü des Bordcomputers ein „Winter-Modus“, der für ein stetig sachtes Beheizen der Batterie sorgt. Die sich dadurch an der Ladesäule deutlich empfänglicher für schnelle Elektronenaufnahme zeigt. Natürlich kostet die künstliche Beheizung aber Energie – man muss also stets den Einzelfall abwägen. Aus diesem Grund hat Kia diese Funktion auch nicht automatisch aktiviert. Mit Blick auf die Reichweite eine weise Entscheidung, denn der Kia EV6 GT-Line AWD Long Range ist bei kalten Temperaturen auch ohne Akkuheizung kein Kostverächter. Wir kamen im Testmittel auf gute 24 kWh/100 km. Für seine Leistung lässt sich der Koreaner also durchaus auch belohnen.e
Der Kia EV6 ist in der GT-Line kein Blender. Sein aufregendes Äußeres wird von einem tollen Interieur, ausgewogenen Fahrverhalten und solider Antriebsperformance flankiert. Allerdings leistet er sich in Sachen Übersicht, Wendekreis und Verbrauch auch Schwächen. Im Kontext sind es aber Schönheitsfehler, die den Gesamteindruck kaum trüben können. Und hier ist der große Korea-Stromer eine echte Empfehlung. (Text und Bilder: Fabian Mechtel)