Irgendwie fühlt sich Jay Schultz jetzt nur noch „wie ein halber New Yorker”. Dabei gehört der Mitvierziger eigentlich zum typischen Stadtbild des Big Apple: vormittags verkauft Schultz Kaffee und Bagel an eilige Businessleute im Financial District. Am Nachmittag und Abend arbeitet er in einer Bar ein paar Ecken weiter. Manhattan ist eben teuer.
Vielleicht sogar schon bald zu teuer, denn Schultz muss jeden Tag mit seinem betagten Ford Taurus über den Hudson in die Stadt, nimmt dann ganz am Rand der City die U-Bahn. „Bisher habe ich eine der Brücken überquert, die noch gratis sind. Das kostet zwar Nerven im Dauerstau - aber kein Geld.” Doch die neueste Entscheidung des Stadtrates macht damit jetzt Schluss.
Eine Citymaut zugunsten der U-Bahn
Schultz wird bald Straßenmaut zahlen müssen. Jeden Tag. Umgerechnet zehn Euro - mindestens. „Da lohnt der Weg in die City kaum noch”, fürchtet der Bagel-Man. Manchen Politikern dürfte das gerade recht sein. Denn erklärtes Ziel der ersten flächendeckenden Straßenmaut in einer US-Großstadt ist es ja gerade, den Verkehr drastisch zu reduzieren.
Die geschätzten Einnahmen aus der City-Maut - umgerechnet einer Milliarde Euro pro Jahr - sollen ab 2021 vor allem der U-Bahn mit ihren quietschenden, kreischenden Uralt-Waggons zugutekommen. Die mindestens ebenso maroden Straßen und Brücken sind bestenfalls danach noch Nutznießer. Und Jay Schultz gar nicht. „Ich verdiene schon mehr als den Mindestlohn”, sagt er. Aber nur, wer mit den umgerechnet 12 Euro die Stunde auskommen muss, kann auf einen Sozialrabatt bei der Maut hoffen.
Die Mehrzahl der mehr als 850.000 Auto-Pendler wird also künftig blechen müssen. Und wenn sie wie Schultz zu besonders verkehrsträchtigen Zeiten in die City fahren, sollen die Gebühren sogar noch höher liegen. Städte wie Stockholm oder Singapur haben mit dieser Methode der Verkehrslenkung bereits seit Jahren gute Erfahrungen gemacht. Hoher Andrang, hoher Preis: Das treibt die Leute in Busse und Bahnen oder in Fahrgemeinschaften.
Freie Fahrt für reiche Bürger
Oder sie können es sich leisten: Freie Fahrt für reiche Bürger - das ist denn auch die Hauptkritik an der Maut, die in der Ära des Milliardärs und Bürgermeisters Michael Bloomberg ersonnen wurde. Die Akzeptanz der Abgabe wird also auch daran hängen, wie schnell der öffentliche Nahverkehr ausgebaut und was er kosten wird. Jay Schultz etwa könnte sich damit anfreunden, „wenn es einen Subway-Rabatt für Pendler geben würde”. Solche Tarife sind im Gespräch. Und es drängt: Denn derzeit kostet das Rein- und Rauspendeln mit den Öffentlichen schon mal 30 Euro am Tag. „Wir bezahlen schon genug, um nach Manhattan zu kommen“, kritisiert denn auch New Jerseys Senator Bob Menendez auf Twitter.
Big Apple hat in den USA allerdings trotzdem noch eine Ausnahmestellung mit einem vergleichsweise gut ausgebauten Bus- und Bahnnetz. „New York ist ein gutes Beispiel für Städte, wo so etwas funktionieren kann”, sagt denn auch John Short, Verkehrsexperte von der University of Maryland Baltimore County. In vielen anderen Städten sei der Öffentliche Personen-Nahverkehr jahrzehntelang sträflich vernachlässigt worden. Los Angeles etwa hat nur ein sehr lückenhaftes Netz, eine mickrige U-Bahn und Busse, die sozialen Brennpunkten auf Rädern gleichen. Dann lieber im Dauerstau. Oder neuerdings halsbrecherisch auf dem Elektroroller über die löchrigen Betonbürgersteige der Stadt.
In Europa hingegen sind die Voraussetzungen beim ÖPNV im Vergleich meist deutlich besser. Für Deutschlands Pendlerhauptstadt München - 360.000 Einpendler täglich - hat ein Forscher der dortigen Bundeswehr-Uni den Effekt schon einmal durchgerechnet: Bei variablen Preisen zwischen Gratis (nachts) und 1,25 Euro je Kilometer zur Hauptverkehrszeit würden solche Mautmodelle bis zu 370 Millionen Euro einbringen. Allerdings dauert es dort wie überall in Deutschland oft Jahrzehnte, bis etwa neue U- oder S-Bahnlinien den öffentlichen Verkehr nachhaltig verbessern.
Ein Vorbild für Deutschland?
Und ob all die Pläne der Verkehrslenker am Ende auch aufgehen, das ist ohnehin noch lange nicht gewiss. In London etwa sind nach anfänglich deutlich sinkenden Autopendler-Raten die Zahlen wieder angestiegen. Gerade erst ist das Einpendeln wieder teurer geworden; 13 Euro kostet Hin- und Rückfahrt nun umgerechnet. Überwacht wird wie in New York oder Dublin per Kamera. Die liest das Nummernschild, vergleicht über eine Datenbank, ob der Besitzer per App oder Online bezahlt hat - und schickt andernfalls sofort eine dreistellige Strafe raus.
Eine Möglichkeit gibt es aber immer, mögliche Strafen und Maut-Kosten zu vermeiden und trotzdem individuell im Auto in die Stadt zu fahren: Taxi, Uber, Lyft und Co. Diese Anbieter haben die Mautpläne begrüßt. Mitchell Moss, Verkehrsforscher an der New York University, prophezeit denn auch schon einen Boom aller Arten von Chauffeur-Services - und weiterhin verstopfte Straßen.
Jay Schultz ist sogar skeptisch, ob die Maut nicht überhaupt wieder einkassiert wird; die Amerikaner seien schließlich „ein Volk von Autofahrern”. 2020 stehen Wahlen an, für New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio von den Demokraten - und für den Präsidenten. „Wenn Donald Trump erst mal merkt, was für ein tolles Wahlkampfthema dieses Eintrittsgeld ist, wird das ganz schnell wieder beerdigt.” (Autoren: pw/sp-x, tv)