Bei Audi hat sich Peter Schreyer schon längst mit dem ersten TT ein Denkmal gesetzt, doch mit dem Wechsel zu Kia begann für den Star-Designer erstmal die Zeit der Brot-und-Butter-Autos. Mit viel Geschick hat der Kreative aus Oberbayern die Marke inzwischen merklich modernisiert und ihr ein frisches Familien-Gesicht verpasst. Jetzt darf er endlich ein paar Emotionen wagen: Die extrovertierte Sportlimousine Stinger sieht scharf aus und will sich mit knackigen Proportionen in der Mittelklasse etablieren. Wir baten den Koreaner mit V6 unter der Haube zum Test.
Wie sieht er aus?
Schon 2011 hat Kia mit dem Concept-Car GT einen Vorgeschmack auf den Stinger gegeben. Die Studie war ein voller Erfolg, und sammelte auf der Messe in Frankfurt viele „Ooohs" und „Aaahs“. „Bitte so bauen!“, skandierten die Kia-Jünger einstimmig, und einige Jahre später hat sich Kias Führungsetage endlich dazu durchgerungen, grünes Licht zu geben. Eine weise Entscheidung, denn auch die Serienversion sorgt für viel Erstaunen: „Das ist ein Kia?“ fragen nicht wenige, wenn sie die Limousine zum ersten Mal live vor sich sehen.
Zu recht: Denn der Stinger trägt zwar die markentypischen Merkmale, allen voran den Tigernose-Kühlergrill. Doch der gesamte Auftritt passt nicht wirklich zu den bisher eher zurückhaltenden Kia-Modellen. Unter dem straffen Blechkleid lässt die Limousine die Muskeln spielen und geizt nicht mit dekorativen Accessoires. Dazu kommen die klassischen Sportwagen-Proportionen: Lange Haube, knackiger Hintern. Und der kurze vordere Überhang, den der Heckantrieb möglich macht.
Wie ist er innen?
So schick wie sich der Stinger von außen gibt, ist er innen leider nicht. Das Cockpit ist wie bei allen Kia-Modellen eher zurückhaltend gestaltet und entlockt sicher nur wenigen Fahrern ein verblüfftes Staunen. Zu meckern gibt es trotzdem nichts: Die Verarbeitung ist tadellos, die Materialen bis auf wenig Ausnahmen einwandfrei und die Bedienbarkeit bestens. Während man bei vielen Herstellern immer wieder mal den ein oder anderen Taster sucht, oder kleinere bis größere Kämpfe mit dem Infotainment-System – und vor allem der beim Kia stets serienmäßigen Navigation – ausficht, läuft beim Stinger einfach alles Reibungslos.
Dazu kommen feine, immer mit Leder bezogene und beheizbare Sessel, die sich in unserem Test auch auf der Langstrecke empfohlen haben. Noch besser: Selbst im Fond lässt es sich mit knapp zwei Metern Länge bequem reisen. Nur für das Gepäck wird es etwas eng: 406 Liter gehen in der Standardkonfiguration in das wegen der stark abfallenden Dachlinie recht flache Ladeabteil. Zum Glück aber lassen sich die hinteren Sitze flach legen, dann passen wenigstens zumindest 1.114 rein.
Was steckt unterm Blech?
Die Kraft entspringt in der Top-Version einem doppelt aufgeladenen 3,3-Liter-V6 und wird standardmäßig an alle vier Räder geschickt. 370 PS und eine Vmax von 270 km/h sind eine unmissverständliche Ansage und drückt man das Gaspedal forsch durch, fallen schon bei extrem niedrigen 1.300 Touren 510 Newtonmeter über die Kurbelwelle her. Eine schwächere Alternative bietet Kia mit dem 2.0 T-GDI, der nur als Hecktriebler erhältliche Vierzylinder ist mit 255 PS ebenfalls nicht untermotorisiert. Dritter im Bunde ist ein 200 PS starker Vierzylinder-Diesel, der wahlweise mit oder ohne Allrad bestellt werden kann.
Wie fährt er?
Wer es drauf anlegt, kann die Tachonadel nach nur 4,9 Sekunden über die 100-km/h-Grenze scheuchen. Statt eines kräftigen Tritts in den Rücken, nach dem man den Dackel auf der Rückbank aus den Polsterritzen ziehen muss, legt der allerdings Stinger überraschend unaufgeregt, ja vielleicht so gar unspektakulär los: die Vierradtechnik vermeidet auf der Gerade jeglichen Schlupf, das Triebwerk gibt seine Power gleichmäßig wie ein Schweizer Uhrwerk ab und die bei allen Stingern verbaute Achtgang-Automatik arbeitet gelassen. Kraftvoll, aber ohne große Getöse nimmt der Kia Fahrt auf, die Geräuschkulisse ist relativ verhalten, das Aggregat ziemlich gut gedämmt. Nur im Sportmodus darf der Stinger etwas lauter knurren, allerdings unterstütz von einem Soundgenerator, der wie so oft einen etwas künstlichen Klang in die Freiheit entlässt.
Was für den Antrieb gilt, trifft auch auf das Fahrwerk zu: Der Koreaner ist erstaunlich gut austariert, hält auch im kurvigen Geläuf tadellos die Balance, ist absolut berechenbar. Schon im bequem Komfort-Modus sind hohe Kurventempi kein Problem, artig lenkt der 4,83 Meter lange Viertürer ein und folgt ohne Abweichungen der vorgegebenen Linie. Im Sportmodus wird wie üblich die präzise Lenkung etwas direkter. die Gasannahme schärfer, und auch die Feder-Dämpfer-Abstimmung verhärtet. Das reduziert die Karosseriebewegungen zwar merklich, macht den Kia aber bei weitem nicht zu einem knochentrockenen Sportler. Selbst jetzt federt der Stinger die meisten Unwirtlichkeiten noch anstandslos weg.
Was fällt sonst noch auf?
So unaufgeregt und zurückhaltend sich der Stinger beim Fahrern präsentiert, so kräftig bedient er sich am Benzin-Vorrat: Der Stinger ist schon auf dem Papier mit unzeitgemäßen 10,6 Litern angegeben, in der Praxis laufen gut und gerne auch zwölf Liter durch die Benzinleitung. Umso vorbildlicher: Auch für die Sport-Limousine gewährt Kia die typischen sieben Jahre Garantie, die es sonst bei keinem Hersteller gibt.
Was kostet er?
Der 55.900 Euro teure Sechszylinder fährt immer in der nahezu komplett bestückten GT-Ausstattung vorfährt und vom Abstands-Tempomat bis zum LED-Licht, vom Harmann-Kardon-Soundsystem bis zur induktiven Ladeschale, von der Lenkradheizung bis zu den belüfteten Sitzen ist so gut wie alles was das Herz begehrt an Bord – Extras, für die Mercedes, BMW und Co. gut und gern 15.000 Euro Aufpreis oder mehr verlangen würden. Wer auf den V6 verzichten kann, fährt mit dem Vierzylinder günstiger, der ab 44.490 Euro zu haben ist; der Diesel beginnt bei 45.590 Euro.
Wichtig nur: Käufer des kleinen Benziner dürfen nicht vergessen, die Rundum-Kamera zu bestellen – ohne die macht das Rangieren ob der eingeschränkten Sicht wenig Spaß. Nur: Die Kamera kommt im 2.400 Euro teuren Technology-Paket mit Querverkehrwarner, Spurwechselassistent, Totwinkelwarner und dem adaptiven Fahrwerk, das allerdings das Exclusive-Paket voraus setzt: Darin sind unter anderem das Soundsystem, das LED-Licht, die elektrische Heckklappe und die Sitzlüftung enthalten. Kostenpunkt: weitere 2.900 Euro. Macht zusammen 4.300 Euro, die den Preisvorteil von knapp 11.000 Euro gegenüber dem Allrad-V6 doch deutlich zusammenschmelzen lassen.
Fazit
Respekt, Herr Schreyer. Kaum jemand hätte vor ein paar Jahren geglaubt, einmal so ein Auto beim Kia-Händler zu finden. Der Stinger sieht klasse aus, verleiht der Marke Schwung und ist deutlich aufregender als VW Passat, Opel Insignia und Co. Kleiner Wermutstropfen: Im Innenraum hat die Koreaner der Mut verlassen. In Sachen Materialauswahl und Verarbeitung ist der Stinger aber ebenfalls top. Dass sich der Kia auf der Straße eher ausgeglichen als aggressiv gibt, mag den ein oder anderen stören. Am Ende aber macht die entspannte Sportlichkeit die Limousine zu einem sexy Alltags-Allrounder. (Autor: Michael Gebhardt)