Das erste Mal
Der neue Ferrari Purosangue (Fahrzeug steht noch nicht zum Verkauf, Homologation ausstehend)² ist jenes familientaugliche Auto, auf das viele Kunden der Traditionsmarke wohl lange gewartet haben. Das zumindest ist die Überzeugung von Ferrari-Marketingchef Enrico Galliera. Ein Hochbeiner, der den Italienern viele erste Male einbringt. Das erste Mal über zwei Tonnen Leergewicht, das erste Mal über drei Meter Radstand, das erste Mal 1,59 Meter in der Höhe. Luftqualitätssensor, Glasdach und Bergabfahrhilfe runden das SUV-Debüt ab, Apple CarPlay und Android Auto (nur für den Beifahrer) sind selbstverständlich ebenfalls gesetzt.
Eins jedoch will man in Maranello nicht sehen: Samstägliche Ausflüge mit dem Laubanhänger zur örtlichen Deponie. Denn eine Anhängerkupplung gibt es nicht.
Anhängelast: 0,0 Kilogramm
Ob je ein Ferrari Purosangue zu solch niederen Arbeiten herangezogen worden wäre? Wir werden es wohl nie erfahren. So muss die eigene Luxusyacht eben weiterhin, eher ordinär, durch den Range Rover von Blankenese nach Portofino gezogen werden.
Der Engländer dürfte im Zweifel auch unkomplizierter zu ordern sein, denn neben der Hürde überhaupt auf die Liste möglicher Käufer aufgenommen zu werden (bereits einen Ferrari erworben zu haben erhöht die Chancen signifikant), gibt es noch eine weitere Unwegsamkeit: Die Jahresproduktion des ersten Ferrari-SUV soll lediglich 2.000 Fahrzeuge umfassen – vergriffen im Voraus für mindestens vier Jahre. Luxus geht eben immer – auch in Krisenzeiten. Volumenseitig Abhilfe schaffen könnte allerdings eine möglicherweise geplante Coupé-Variante des Purosangue, genauso wie ein kompakteres SUV, das zumindest ein wenig den CO2-Fußabdruck schmälert. Zum Beispiel mit dem V6-Hybrid aus dem aktuellen 296 GTB (Kraftstoffverbrauch kombiniert: 7,4 l/100 km; Stromverbrauch kombiniert: 13,8 kWh/100 km; CO2-Emissionen kombiniert: 169 g/km)².
Turbo- oder Elektromotor? V12-Sauger!
Eine gewisse Absolution kann beim eingesetzten Motor freilich nicht schaden: Im Ferrari Purosangue sorgt ein, pardon, ziemlich fetter 6,5-Liter-V12 mit 725 PS für maximalen Vortrieb. 716 Newtonmeter Drehmoment reißen an allen vier Rädern und katapultieren das SUV aus Maranello in 3,3 Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100. Die Höchstgeschwindigkeit soll erst bei 312 km/h erreicht sein.
Bei geschätzten Preisen um die 390.000 Euro darf eine maximale Eskalation im Motorraum beinahe vorausgesetzt werden. Der erlauchten Käuferschaft dürfte es überdies auch egal sein, ob der Purosangue in manchen Ländern, je nach Position auf der Warteliste, nicht mehr zugelassen werden kann. Dann muss beispielsweise der norwegische Multimillionär ab 2025 eben öfters Urlaub am deutschen Zweitwohnsitz machen.
Mehr Drehmoment, neue Motorbezeichnung
Im Detail soll der Zwölfzylinder-Sauger im Purosangue, der im Ferrari-Sprech übrigens kein SUV ist, neu entwickelt worden sein. Der neue Motorkennbuchstabe F140IA soll ihn auch namentlich von jenem Aggregat abheben, das im 812 Competizione verbaut ist.
Ob das stimmt, können wir an dieser Stelle weder bestätigen noch verneinen. Den technischen Daten ist bisher lediglich zu entnehmen, dass im Vergleich zum 812er ein höheres Drehmoment über ein breiteres Drehzahlband zur Verfügung steht. Das Achtgang-Doppelkupplungsgetriebe wurde derweil vom SF90 Stradale übernommen, die Mischbereifung beträgt vorne 22 und hinten gewaltige 23 Zoll.
Ein bisschen Allrad…
Kaum ein Wort verlieren die Italiener hingegen zum Allradantrieb des Ferrari Purosangue. Mangels elektrifizierter Vorderachse wie beim SF90 (Kraftstoffverbrauch kombiniert: 7,4-6,5 l/100 km; Stromverbrauch kombiniert: 10,2-9,3 kWh/100 km; CO2-Emissionen kombiniert: 205-169 g/km)² dürfte die durchaus eigenwillige 4x4-Konstruktion des als Vorgänger gehandhabten GTC4 Lusso zum Einsatz kommen.
Zur Erinnerung: Der V12 Shooting Brake (gebaut zwischen 2016 und 2020) hatte nur bis zum fünften von sieben Gängen Allrad – danach schaltete sich die Vorderachse einfach ab. Bei der angenommenen Endgeschwindigkeit dürfte das aber reichen, um bis locker an die 200er Grenze mit vier angetriebenen Rädern unterwegs zu sein.
…aber bitte kein Gelände
Dieser Typ von Allradantrieb hat indes den entscheidenden Vorteil weder übermäßig Platz noch Gewicht im Ferrari Purosangue einzunehmen. Die kompaktbauende Power Transfer Unit (PTU) samt Zweigang-Getriebe und Kupplungspaket findet noch vor dem weit hinter den Vorderrädern montierten V12 Platz, nimmt dort direkt die Leistung vom Motor ab und sichert so eine annährend optimale Gewichtsverteilung im Verhältnis 49 zu 51.
Wie viel der Allrad im Detail wiegt, vermochte Ferrari noch nicht mitzuteilen. Im GTC4 Lusso waren es einst circa 40 Kilogramm. In den Offroad-Parcours sollte man das SUV demnach also besser nicht scheuchen und so verzichten die Italiener auch auf gesonderte Geländefahrprogramme. Neben der eher straßenoptimierten 4x4-Technik ist es auch mit der Bodenfreiheit nicht sonderlich weit her.
Kofferraum, Luxus und Apple CarPlay für den Beifahrer
Aber wozu braucht es Bodenfreiheit, wenn man dafür einen 473 Liter großen Kofferraum haben kann? Die beiden Einzelsitze im Fond lassen sich ebenfalls umklappen, eine fünfsitzige Variante wird vorerst nicht angeboten. Gestalterisch bleibt sich Ferrari im Innenraum derweil seiner selbst treu.
Vorne sitzt man sportlich, eingefasst in viel Luxus mit reichlich Informationen versorgt. Der Fahrer verfügt über ein volldigitales Kombiinstrument, ein bisweilen etwas überladenes Lenkrad und noch ein paar mehr Tasten in der Mittelkonsole. Der Beifahrer wiederum spielt am eigenen Bildschirm, bedient hierüber auch einzig und allein Android Auto oder Apple CarPlay.
Hinten sitzen in einem der wenigen Viersitzer-Ferraris war bis dato nie der Hit, der Purosangue allerdings liefert erstmals anständige Kopf und Beinfreiheit. Eine Besonderheit sind zudem die hinten angeschlagenen „Selbstmördertüren“ - bekannt zum Beispiel vom Rolls Royce Ghost. Auf die B-Säule konnte oder wollte man aus Gründen der Verwindungssteifheit übrigens nicht verzichten.
Schiere Rechenleistung gegen den drohenden Abflug
Wie sich der Purosangue fahren lässt wissen wir natürlich noch nicht. Bekannt ist nur, dass Ferrari abermals ein wahres Technikfeuerwerk abbrennt, damit die Fuhre möglichst lange auf der geteerten Piste bleibt. Hinterachslenkung 4WS, Slide Slip Control (SSC) mit Versionsstand 8.0 wird geliefert, daneben ein aktives Aufhängungssystem, gesteuert über einen separaten Elektromotor.
Innert einer Tausendstelsekunde sollen alle fahraktiven Komponenten wie Lenkung und Dämpfung an die Gier- und Neigungswinkel sowie die Bodenbeschaffenheit angepasst werden. Wankbewegungen sollen ebenfalls auf ein Minimum reduziert werden, damit die 725 PS und mehr als zwei Tonnen Lebendgewicht flugs und knitterfrei über verwundene Landstraßen geklöppelt werden können.
Optisch nicht schlecht, aber etwas beliebig
Bleibt noch ein subjektiver Blick auf die optischen Qualitäten des ersten Ferrari-SUV zu werfen. So ist der Purosangue gar nicht so schlimm geraten wie ursprünglich gedacht. Von schräg oben betrachtet erinnert die Designsprache ein wenig an jene des Ferrari Roma (Kraftstoffverbrauch kombiniert: 10,3 l/100 km; CO2-Emissionen kombiniert: 234 g/km)². Ohne die ikonischen Pferdewappen könnte man allerdings auch einen Polestar erkennen.
Besonders das Heck wirkt gelungen, durchgehende Leuchtbänder sollen andere haben, dafür gibt es einen fein integrierten Heckspoiler sowie einen angedeuteten Entenbürzel wie beim Aston Martin DBX. Ob es die dezent ausgestellten Kohlefaser-Radhausverkleidungen bei einem solchen Softroader nun gebraucht hätte, steht auf einem anderen Blatt.
Ab 2023 des Aktionärs neuer Liebling
Laut Ferrari sollen die ersten Purosangue Anfang 2023 ihren neuen Besitzern übergeben werden. Der Name übrigens steht im Italienischen für „Vollblut“ und soll von Anfang an auch als Motivation für das SUV-Projektteam gedacht gewesen sein. Weitere positive Impulse erhofft sich die börsennotierte Ferrari N.V. durch ihr erstes SUV freilich am Aktienmarkt, wo kurzfristige Erfolge meist mehr zählen als eine langfristige Markenentwicklung. (Text: Thomas Vogelhuber | Bilder: Hersteller)