Mit seiner inversen, also nach innen gekehrten Heckscheibe kreierte der Ami 6 die sogenannte „Linie Z“. Eine gewagte und polarisierende Formensprache, mit der Flaminio Bertoni jedoch keine Designrevolution auslösen, sondern schlicht die Layoutvorgaben des Citroen-Generaldirektors Pierre Bercot erfüllen wollte: Eine vier Meter messende, viertürige Limousine mit großem Kofferraum und ausreichend Kopffreiheit für die Fondpassagiere und Bestsellerpotential in der unteren Mittelklasse. Bedingungen, die der fast schon skurril gezeichnete Ami 6 übererfüllte - genau wie sein fast zeitgleich lancierter englischer Rivale im „Z-Design“, der heute vor allem aus „Harry Potter“-Filmen bekannte Ford Anglia.
Top und Flop
Solch später Filmruhm blieb dem Ami 6 zwar verwehrt, dafür eroberte die technisch mit dem Citroen 2CV verwandte Limousine 1966 in Frankreich Platz eins in den Zulassungscharts. Insgesamt wurden weltweit über eine Million Einheiten des kleinen Freundes Ami 6 gebaut, dessen Name auf französisch wie „La missis“ klingt.
Ausgerechnet in England zählte die exzentrische Miss allerdings zu den größten Citroen-Flops aller Zeiten. Dies änderte sich erst als das französische Fräulein 1969 einen Nachfolger erhielt, der als stilistisch geglätteter Ami 8 in neun Jahren über 800.000 Mal verkauft wurde. Dazu zählte auch das an 267 ausgewählte Kunden verkaufte Experimental-Coupé M 35 mit 49 PS starkem Einscheiben-Wankelmotor.
Mehr Licht
Außergewöhnlich war nicht nur das Design des für junge Familien und die bürgerliche Mitte konzipierten neuen Citroen, sondern auch die Technik, mit der sich das französische Fräuleinwunder gegen die etablierte Konkurrenz durchsetzen sollte. Dazu zählten eigens von Zulieferer Cibie entwickelte, markante rechteckige Scheinwerfer, die dank Zusatzreflektoren gegenüber konventionellen Scheinwerfern eine um 25 Prozent bessere Lichtausbeute hatten, aber auch die weitgehend vom 2 CV übernommene extraordinäre Einzelradaufhängung der Vorder- und Hinterräder paarweise an einem Längsfederelement.
Dagegen hatte der luftgekühlte 21-PS-Zweizylinder-Boxer-Motor gegen die größeren Vierzylinder der anvisierten Konkurrenz von Renault (Dauphine), Simca (Aronde), Ford (Anglia und 12 M), VW (Käfer) oder Fiat (600 bzw. 1100) keinen leichten Stand. Was den Ami 6 aber nicht daran hinderte, zum meistverkauften Auto Frankreichs aufzusteigen. Auch eine internationale Karriere gelang dem außergewöhnlichen Citroen. Dies allerdings vor allem in Ländern mit eigenen Produktionsstätten wie Spanien, Argentinien und Madagaskar. In den USA wurde das mutige Bekenntnis zu Zweizylinder und Z-Design dagegen nicht belohnt. Im Gegenteil: Das Scheitern des Ami 6 war mitverantwortlich für den vollständigen Rückzug der Marke aus Nordamerika.
Enthüllungsstory
Ebenso spektakulär wie das Design des französischen Fräuleinwunders war seine Weltpremiere. Eine erste detaillierte Enthüllungsstory über die viertürige Limousine mit inversem Rückfenster publizierte ein französisches Auto-Magazin bereits zwei Jahre vor dem offiziellen Debüt – allerdings passend zur Vorstellung des englischen Ford Anglia. Für Citroen-Chef Bercot Anlass, Strafanzeige zu stellen; ein Ermittlungsverfahren wegen Industriespionage verlief jedoch ergebnislos.
Dafür erfolgte die Pressevorstellung des Ami 6 mit einem so noch nie da gewesenen Paukenschlag: Am 24. April 1961 wurde die extravagante Limousine zeitgleich vor laufenden Filmkameras in sechs europäischen Metropolen enthüllt. In Amsterdam, Brüssel, Genf, Köln, Mailand und in Versailles bei Paris konnten Journalisten und Prominente aus Politik und Gesellschaft den französischen Herausforderer in der unteren Mittelklasse erstmals in Augenschein nehmen.
Putsch statt Auto
Für die erhofften Schlagzeilen in der Weltpresse sorgte die Ami-6-Premiere dennoch nicht – obwohl Citroen dem Erzrivalen Renault und dessen bereits ankündigten, revolutionärem Modell R4 zwei Monate zuvor gekommen war. Die Titelseiten der Zeitungen bestimmte in jenen Apriltagen der Putsch der Generäle in Algerien, der auch tagespolitisches Thema auf dem Militärflugplatz von Versailles war, dem Ort des französischen Ami-6-Debüts.
Für internationales Aufsehen sorgte dafür die Einweihung der Produktionsanlagen in Rennes-La-Janais, die von Präsident Charles de Gaulle als modernste Autofabrik Europas gefeiert wurde. Präsidentengattin Yvonne de Gaulle wiederum bekam auf dem Pariser Salon 1961 als prominenteste Ami-6-Fahrerin publikumswirksam ihren Autoschlüssel überreicht – nachdem ihr Mann zuvor den Renault 4 gewürdigt hatte. Allerdings enthüllt der neue Citroen ausgerechnet auf der Bühne des Pariser Salons einige eklatante und überaus peinliche Schwächen, die schnelle Nachbesserung erforderten.
Drei Autos täglich
Das Stahlblech war so dünn, dass es sich verbeulte, sobald sich enthusiastische Messebesucher dagegen lehnten. Der Legende nach sollen die drei Messefahrzeuge täglich ersetzt worden sein – in der Produktion wurden jedenfalls ab Ende 1961 um 40 Prozent stärkere Bleche eingesetzt. Außerdem ließ sich der Kofferraum nur per Seilzug-Fernentriegelung öffnen. Der dafür zu betätigende Schalter befand sich jedoch versteckt rechts hinten neben der Rücksitzbank. Um den Schalter etwa nach Rückkehr von einem Einkauf zu erreichen, musste zunächst die Fahrertür aufgeschlossen werden (die einzige Tür mit einem Schloss), dann die rechte hintere Tür von innen entriegelt und schließlich von außen geöffnet werden – ein umständlicher zu öffnender Kofferraumdeckel ist kaum vorstellbar.
Nach Hohn und Spott durch die Konkurrenz und verärgerten Kundenreaktionen erhält der Ami 6 im November 1961 einen konventionellen Druckknopf außen am Kofferraum. Einen weiteren Kritikpunkt, die mangelhafte Leistungsentfaltung des 21-PS-Motörchens in der nur 105 km/h schnellen Limousine, stellte Citroen erst im September 1963 durch 15 Prozent mehr Leistung ab.
Kombiversion
Der Renault 4 hatte derweil erfolgreich bewiesen, dass mit Heckklappe Handwerker und junge Familien als Kunden gewonnen werden konnten. 1963 wollte sich auch der bekennende Lastenesel-Gegner Pierre Bercot dem neuen Trend nicht mehr entgegen stellte. Er gab deshalb eine Kombiversion des Ami 6 in Entwicklung, die nur ein Jahr später vorgestellt wurde und sich sofort als Volltreffer erwies. Schon im ersten vollen Jahr wurden mehr Kombis (Break) verkauft als Limousinen.
Kaum mehr überraschen konnte daher der Ami 8, der als Fließhecklimousine mit großer Heckklappe und ansonsten nur leicht geglätteter Ami-6-Karosserie auf dem Genfer Salon 1969 Weltpremiere feierte und zehn Jahre im Programm blieb. Mit einer Gesamtproduktion von 800.000 Einheiten verfehlte der Ami 8 die Millionen-Marke zwar deutlich, dafür musste sich der ab 1973 auch mit Vierzylindermotoren erhältliche kleine Freund gegen neue Konkurrenz aus dem eigenen Haus behaupten. Vor allem der avantgardistische Citroen GS mit hydropneumatischem Fahrwerk bedrängte den gealterten Ami 8 heftig.
- Chronik
- Modellhistorie
- Preise
1955: Erste Planungen für eine neue Citroen-Baureihe zwischen 2 CV und DS
1957: Das Entwicklungsprojekt mit der internen Bezeichnung „M“ für „milieu du gamme“ (Mittelklasse), später „AM“, startet. Aus den Buchstaben formt sich später der Kunstname Ami. In Frankreich läuft der Ami 6 auch unter der nicht offiziellen Bezeichnung 3 CV.
1959: Noch vor der Premiere des Ami 6 debütiert der britische Ford Anglia mit inverser Heckscheibe. Studien wie Packard Balboa (1953) und Packard Clipper (1955) deuten diese Idee nur formal an, ohne das Glas entsprechend zu formen
1961: Im April läuft die Produktion des Ami 6 in Frankreich an. Am 24. April erfolgt die Pressevorstellung parallel in mehreren europäischen Städten. Im Oktober feiert der Ami 6 auf dem Pariser Salon Premiere
1962: Robert Opron übernimmt nach Flaminio Bertonis Tod die Designverantwortung und entwickelt in den Folgejahren die Modelle Ami 8 und M 35
1963: In den USA wird der Ami 6 unter der Bezeichnung „Cjtroen Four Door Sedan“ eingeführt. Auf Madagaskar wird die Lizenz-Produktion des Ami 6 vorbereitet. Im September erhalten alle Ami 6 eine Leistungssteigerung von 21 auf 24,5 PS
1964: Vorstellung des Ami 6 Break
1965: Am 30. März läuft der vier millionste Citroen der Gesamtproduktion vom Band, ein Ami 6. Verkaufsstart für den Ami 6 Break
1966: Der Ami 6 belegt Platz eins in der französischen Zulassungsstatitistik. Modellpflege mit Umstellung auf 12-Volt-Bordnetz
1967: In Spanien startet der bei Citroen Hispania gebaute Ami 6 Break aus namensrechtlichen Gründen unter dem neuen Namen Citroen Dyam (zuvor Citroen 3 CV)
1968: Im März wird eine Lieferwagenversion des Ami 6 Break eingeführt. Im Herbst läuft der einmillionste Ami 6 vom Band
1969: Im September läuft die Produktion des Ami 6 aus, nur die Nutzfahrzeugversionen werden noch weitere zwei Jahre gefertigt. Präsentation und Serienstart des Nachfolgers Ami 8. Vorstellung und Produktionsanlauf bei Heuliez des Coupés M 35 mit Wankel-Motor. Ursprünglich sollten 500 Einheiten des ersten Citroen mit Kreiskolbenmotor verkauft werden
1971: Nach nur 267 endet die Fertigung des M 35. Die Fertigung des Ami 8 läuft in Argentinien an
1973: Vorstellung des Ami Super
1979: Vertrieb und Produktion des Ami 8 in Europa werden eingestellt. Nachfolger ist der im Vorjahr eingeführte Citroen Visa
1981: Produktionsstopp für den Ami 8 in Argentinien
Ausgewählte Produktionszahlen
Citroen Ami 6: 1.039.384 Einheiten (1961-1969),
davon 483.986 Limousinen (Berline) und 555.398 Kombis (Break)
Citroen Ami 6 Commerciale: 3.518 Einheiten (1961-1971)
Citroen Ami 8: 773.344 Einheiten (1969-1978)
Citroen Ami 8 Commerciale: 27.431 Einheiten (1969-1979)
Citroen M 35: 267 Einheiten (1969-1971)
Citroen Ami 6 (Mai 1962) ab 5.450 Mark
Citroen Ami 6 Standard (September 1962) ab 4.990 Mark
Citroen Ami 6 Tourist (1964) ab 5.150 Mark
Citroen Ami 6 Export (1964) ab 5.350 Mark
Citroen Ami 6 Break (1965) ab 5.490 Mark
Citroen Ami 6 (1968) ab 5.115 Mark
Citroen Ami 6 Break (1968) ab 5.590 Mark
Citroen Ami 6 Break (1969) ab 5.580 Mark
Citroen Ami 8 (1969) ab 5.480 Mark
Citroen Ami 8 Break (1969) ab 5.680 Mark
Citroen Ami Super (1973) ab 6.480 Mark
Citroen Ami Super Break (1973) ab 6.680 Mark
Citroen Ami Super (1976) ab 8.200 Mark
Citroen Ami Super Break (1976) ab 8.700 Mark
Citroen M 35 (1969) ab 13.950 Französische Francs
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## Mit Wankelmotor
Für weltweites Aufsehen sorgte der bel ami allerdings noch einmal als Technologieträger. Karossier Heuliez zauberte 1969 aus der kleinbürgerlichen Limousine das schicke Coupé M 35, unter dessen Motorhaube ein Einscheiben-Wankelmotor arbeitete. Produziert wurde das Kreiskolbentriebwerk bei Comotor, einem eigens von Citroen und NSU gegründeten Unternehmen. Vor dem Großserienstart sollte die Erprobung im Coupé M 35 erfolgen, das in einer Auflage von 500 Einheiten an ausgewählte Kunden verkauft wurde. Mitglied des exklusiven Kreises wurde nur, wer sich verpflichtete, mindestens 30.000 Kilometer im Jahr zu fahren und das Auto den Citroen-Ingenieuren zur Analyse und Beseitigung eventueller Probleme zu überlassen.
Dafür erhielten die Kunden das kleinste Auto mit hydropneumatischer Federung und den ersten französischen Serien-Rotarier. Als äußeres Zeichen der Exklusivität trugen alle Coupés auf dem linken vorderen Kotflügel eine Aufschrift mit der laufenden Produktionsnummer. Allerdings war bereits bei 267 Einheiten Schluss, mehr Testfahrer fanden sich nicht. Kein Wunder, immerhin kostete das kleine Experimentalcoupé mit rund 14.000 Francs fast so viel ein großer Citroen DS in Basisausstattung. Ein schlechtes Vorzeichen für die Wankelzukunft bei den sonst so innovationsfreudigen Franzosen. Entsprechend kurz verlief die Karriere des ersten regulären Serien-Rotariers von Citroen, des GS Birotor.
Kultstatus
Was ist geblieben vom französischen Fräuleinwunder? Fast keine Überlebenden des Versuchsträgers M 35, schneller Rosttod für den Ami 8 – sowie Kultstatus und eine Spitzenplatzierung für den Ami 6 in der ewigen Bestenliste exzentrischen Automobildesigns.